Haben wir eine subjektive Erwartung nach Objektivität?

In den letzten Tage in Kiew gab es einige Situationen, wo von unserer Seite aus die Objektivität der ukrainischen ProfessorInnen und WissenschaftlerInnen hinterfragt wurde – und zu Recht. Alles, was mit Putin, russischen Medien, russischer Politik und russischen Ansprüche gegenüber der Ukraine zu tun hatte, war laut den 99% der ReferentInnen die Verkörperung des Bösen. Man konnte kaum noch – wenn auch nur in manchen klitzekleinen Aspekten –– die ukrainische Politik selbst gegenüber Russen/Russland (z.B. Sprachpolitik gegenüber russisch-sprachigen Ukrainern) in Frage stellen. Jegliche Frage schien eine Empörung der anderen Seite hervorzurufen. Man konnte denen nach jedem Vortrag ziemlich einfach ein “Schwarz-weiß-Denken” vorwerfen, welches weder einen konstruktiven noch professionellen Eindruck bei uns hinterließ. Zur Lösung der vielen Probleme, notwendigen Reformen und der Situation in der Region Donezk und Lugansk sowie auf der Krim kann aber ein solcher Umgang nicht viel beitragen…

Trotzdem hatte ich bei alle dem das Gefühl, dass in solchen Situationen wichtige Aspekte auch von unserer Seite (ungewollt) rausgelassen wurden. Auch das spricht selbstverständlich dafür, dass es eine Objektivität per sé gar nicht gibt. Und das ist uns allen eigentlich auch klar.

Aber… in wie fern kann man überhaupt eine Objektivität / Neutralität / Distanziertheit von denjenigen erwarten, deren Land in diesem Moment von einem übermächtigen Nachbarn angegriffen worden ist/wird – und das nicht mal zum ersten Mal in der Geschichte?

Ich komme aus einem der kleinsten Ländern Europas (Estland), dessen Volk bis zu Estlands Unabhängigkeit im Jahre 1991 schon viele Male ungewollt verschiedenen Großmächten zugeteilt wurde: Im 18. Jahrhundert wurde es schließlich ein Teil des russischen Zarenreiches; im II. Weltkrieg zweimal von der Sowjetunion besetzt.

Dieses Land hat in der vergangenen Woche (20.-26.10.2014) Konzerte und Festivals für die Unterstützung der Ukraine organisiert. Auf vielen Homepages gibt es anstatt Werbung kleine blau-gelbe Anzeigen mit Spendenaufrufen. Die Omas auf den Inseln Estlands, die sich finanziell keine (größeren) Spenden leisten können, wurden aufgerufen, für die Flüchtlinge aus der Ost-Ukraine Handschuhen wegen des bevorstehenden kalten Winters zu stricken.

Wenn ich mir nun vorstelle, dass Estland in einer ähnlichen Situation wie die Ukraine wäre und von den estnischen WisschenschaftlerInnen und PolitikerInnen auf einer fiktiven Exkursion von ausländischen Studierenden mehr Objektivität und Professionalität in Bezug auf ihre Gefühle gegenüber Russland erwartet würde, sagt irgendetwas in mir, dass es doch zu viel zu erwarten wäre und dass es einige Sachverhalte und Gefühle gibt, die man “wissenschaftlich” schlichtweg nicht nachvollziehen kann.*

Es mag hierfür viele Gründe geben… Wie zum Beispiel die Tatsache, dass wir eine Gruppe von Studierenden sind, die in einer Woche zurück nach Hause fahren, wo die Heizungen im Unterschied zu Ukraine jederzeit angeschaltet werden können (in der Ukraine hätte man im Normalfall schon ab dem 15. Oktober heizen können sollen, der Staat spart aber vorsichtshalber erst mal; bis wann, weiß momentan noch keiner).

Es mag auch daran liegen, dass die politische Kultur in Deutschland und der Ukraine nicht zu vergleichen ist, die Finanzierung der politischen Bildung sowieso nicht. Dass folglich auch die Inhalte der Wahlkampagnen, Wahlprogramme sowie Wählerverhalten und Erwartungen anders sind, auch wenn man das kritisieren und bedauern mag und soll, ist klar.

Die Erwartungen bezüglich einer „angemessenen“ Objektivität mögen – aus meiner Sicht – auch etwas zu hoch sein, da die Gruppe zu 95% aus Studierenden mit deutscher Herkunft besteht, die das Gefühl einer emotionalen Bedrohung (s)eines Volkes gegenüber einem unvergleichbar mächtigeren Nachbarland, mit dem man hauptsächlich die dunkelsten Seiten der Geschichte in Verbindung bringt, nie kennen gelernt haben bzw. kennenlernen mussten.

Alles, was ich mit diesem Beitrag sagen möchte, ist, dass man trotz vielerlei berechtigter Kritik nicht vergessen sollte, dass man die Situation der Anderen, die man stets nur mit seinen eigenen, subjektiven Standards wissenschaftlich und objektiv zu reflektieren versucht, nie gänzlich nachempfinden kann. Deswegen mögen viele Antworten auf unsere Fragen auf dieser Exkursion auch verborgen bleiben…

* Dabei meine ich nicht, dass man die verschiedenen Akteure, unabhängig von welchem Lager der Ukraine-Krise, nur aus dem Grund, dass man selber nie in einer ähnlichen Situation war, nicht in Frage stellen und/oder wenn nötig, stark kritisieren soll.

P.S. Tausend Dank Imke für Dein Korrekturlesen!

2 Gedanken zu “Haben wir eine subjektive Erwartung nach Objektivität?

  1. Liebe Lilian!
    Vielen Dank für Deine kritische Reflektion und sensible Einfühlung in die Menschen dieses Landes und seiner Geschichte, das Ihr eben nur bereist! Mir wäre es wichtig zu erfahren, ob neben der üblichen politischen Verhandlungsebene auch mediative Ansätze angeboten und gesucht werden.
    Mit viel Interesse lese ich Eure Beiträge.
    „Die Ukraine“ aus den Medien wird für mich durch Eure Mit-Teilungen persönlicher, rückt näher.
    Vielen, vielen Dank
    Maria

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  2. Am kommenden Wochenende werde ich mindestens einem Gespräch bei Kaffee und Kuchen beiwohnen können, an dem der Nachbar meiner Mutter beteiligt ist. 45er Jahrgang, Anfang der 50er vom Osten in den Westen gezogen und seit Jahren der festen Überzeugung, der Bundeskanzler sei ferngesteuert vom US-Präsidenten. „Der Ami“ ist böse, man müsse doch endlich einmal Verständnis für Putin aufbringen. Gerade auch in Bezug auf die Ukraine! Jawohl!
    Er ist kein Wissenschaftler, verbringt seine Rente mit ausgiebiger Zeitungslektüre („alles von den USA manipuliert!“) und dem Schreiben von Leserbriefen. Die SZ hat ihm diesbezüglich neulich den Account gesperrt („und das soll Meinungsfreiheit sein…alles gelogen“). Sein Blickwinkel ist sehr subjektiv und wird sich vermutlich nicht mehr ändern. Ich mag ihn trozdem, wenn auch nicht dafür.
    Subjektiv fühlen, handeln, denken, die Welt betrachten, das fällt leicht.

    Objektivität, kann es die dagegen wirklich geben?
    Ich halte sie für einen guten Vorsatz. Gute Vorsätze sind wichtig.
    Wie das aber so ist mit guten Vorsätzen ist auch hier die hundertprozentige Umsetzung schwierig bis unmöglich. „Ich will in meinem Leben niemanden verletzen.“ Kann man sich vornehmen. Ist lobenswert. Aber selbst, wenn man sich ganz, ganz doll anstrengt, so wird es immer wieder Momente geben, in denen man bewußt oder unbewußt gegen seinen Vorsatz verstößt.
    Mit der Objektivität ist es doch nicht anders. Man kann versuchen, seinem Ziel so nahe wie möglich zu kommen. Sich die Welt offen anzusehen und auch in die Ecken zu gucken, hinter geschlossene Türen, in alle Richtungen. Und das macht ihr offensichtlich. Die totale Objektivität, vermutlich menschenunmöglich.

    Meine persönliche Frage, die sich sicher nie pauschal beantworten läßt, wie geht es wohl jemandem, der aus dem einen Land stammt und im anderen lebt. Und nun mittendrin steckt, im Konflikt. Andrej Kurkow zum Beispiel. Zuglektürenautor. Daran überlege ich so für mich, seit ich eure Berichte lese.

    Vielen Dank jedenfalls an euch alle für Denkanstöße und Berichte!

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